Wissen

wissen von dana berg


Ich dachte, ich kenne das zwanzigste Jahrhundert. Doch gibt es ein Mysterium, etwas, das geschehen ist, weltumspannend, folgenreich, tödlich, eine Katastrophe, die fünfzig, möglicherweise hundert Millionen Menschenleben kostete. Von dieser Katastrophe erfahre ich spät. Über Jahre hinweg taucht sie in Nebensätzen auf, wird angedeutet und läuft heimlich unterhalb des Bekannten mit. Ich entwickele eine mir ungehörig scheinende Faszination dafür, klaube hier und da Informationsteilchen zusammen, ohne Absicht, mich vollständig ins Bild zu setzen. Die Spanische Grippe soll Geheimnis bleiben, so wie oumuamua, der rätselhafte, zylindrische Himmelskörper.


2018, zum hundertjährigen Jubiläum der Grippe, erscheint ein Buch, das umfassend und zugänglich die Pandemie beschreibt. Den Kauf schiebe ich auf die lange Bank. Ich tätige ihn am 3. März 2020, am Tag, an dem ich von der Absage der Leipziger Buchmesse erfahre und begreife, dass Corona keine vorübergehende Sache sein wird. In der Vorahnung einer Pandemie von einer vergangenen Pandemie zu lesen, scheint mir schlüssig. Wissen von gestern auf heute zu legen treibt mich an, mich endlich dem Mysterium zu stellen.


So beginne ich zu lesen. Ich lese 1918 parallel zu 2020. Ich teile mir die Kapitel ein, so, wie man sich köstliches Essen einteilt, jedes Kartoffelstückchen, jede Erbse wird einzeln aufgespießt, das Schmecken soll verlängert werden. Ich erzähle niemanden von der Lektüre. In gewisser Weise schäme ich mich dafür. Es ist grotesk und abnorm, ein Heischen nach Spektakulärem, eine anrüchige Lust am Morbiden. Als gäbe es in diesen ersten Märztagen nicht ausreichend Informationen, die ich aufnehmen müsste, um in Sichtweite zu bleiben mit den Veränderungen, die um mich herum geschehen.


Ich bin voller Unwissen an diesem Anfang. Ich kenne nicht einmal die Grundlagen. Ich weiß nicht, wie man sich die Hände hygienisch wäscht und was Seife eigentlich mit dem Virus macht. Also beginne ich zu lernen. Ich lerne die Fingerzwischenräume zu säubern und dass es notwendig ist, dazu »Freude schöner Götterfunken« zu summen. Ich lerne den Unterschied zwischen Corona, Covid-19 und Sars-CoV-2 und lerne, was die 19 bedeutet und was die 2. Ich erfahre vom Tränenkanal als Infektionsweg, von Flatten-The-Curve und der heiligen Corona, der Patronin gegen Seuchen, und lerne später, dass dieses so passend scheinende Wissen nur zu einem Teil stimmt.


Ich merke schnell, dass es verschiedenes Pandemiewissen gibt: politisches Wissen, gesellschaftliches, absurdes, nutzloses, popkulturelles, lokales, medizinisches Wissen. In den ersten Tagen nehme ich alles Wissen mit, was mich erreichen kann. Mühelos fließt es in mich hinein, ich halte es nicht zurück. Ich bin begierig, lasse mich bereitwillig von Wissen fluten; die Herkunft des Wortes Quarantäne, die Definition von Risikogruppen, die Bedeutung des Begriffs Durchseuchung.


Bald verstehe ich, dass ich nicht alles verstehen will. Ich will das Virus nicht auf molekularer Ebene begreifen, will nicht wissen, wie die Situation in Kanada ist, will auch nicht im Grundgesetz lesen, welche Rechte mir genommen werden müssen, um mich zu schützen.


Mit den Wochen werde ich müder. Das ständig, wie mir scheint, exponentiell zunehmende Wissen ermattet mich. Wissen macht verletzbar. Ich entscheide mich für Unwissen, filtere, was ich erfahren will. Ich will nur ahnen, was auf den Intensivstationen geschieht, die Schmerzen nur mutmaßen, das Leid nur in Überschriften an mich herankommen lassen. Ich will nicht die Todesanzeigen von Bergamo lesen, in das ausgehobene Massengrab von Ellis Island zoomen, die vernarbten Lungen sehen. Ich schirme mich ab, setze eine Maske auf, die das Wissen vom Virus fernhalten soll.


Was ich tue: Ich lese weiter von der Spanischen Grippe. Abschnitt für Abschnitt erschließt sich die abgeschlossene und damit sicher verwahrte Vergangenheit: Camp Funston in Kansas, die verschiedenen Patienten Null, die Aspirinvergiftungen, wie Egon Schiele nach dem Tod seiner schwangeren Frau – und damit kurz vor seinem eigenen Grippetod – mit »Kauerndes Menschenpaar« die Familie malt, die wegen der Grippe niemals sein wird.


Ich suche Gemeinsamkeiten. Ich horche auf, wenn in Buch und Podcast die Rede ist von zweiten Wellen, ziehe Parallelen, wenn ich 1918 von den toten Hausmädchen in Paris und 2020 von toten Schlachthofarbeiterinnen lese, vergleiche die Feldlazarette von damals mit denen im New Yorker Central Park, erkenne Muster, wenn die Namensgebung von Viren Thema ist; der Bolschewikenkrankheit, der Sumogrippe, der deutschen Grippe, dem Chinesischen Virus, Kung Flu.


Als das Buch ausgelesen und die alte Katastrophe damit beendet ist, lässt der Mai noch auf sich warten. Mittlerweile gibt es so viel Wissen, so viele Studien, so viele Artikel, schon Romane, Sachbücher, Polemiken zur Coronapandemie, dass kein Mensch auf der Welt mehr alles darüber wissen kann. Jeder sieht Ausschnitte und die Wahl dieser Ausschnitte bestimmt den Blick auf die Katastrophe.


Ich frage mich, ob die Coronapandemie in hundert Jahren auch ein Mysterium sein wird, etwas, das verschütt gegangen ist zwischen all den anderen Geschehnissen einer Epoche. Ob bei der nächsten Pandemie auch jemand Corona gegenlesen wird. Ob das, was jetzt ist, Blaupause sein wird für den nächsten Ausnahmezustand.


(sp)