Ich erinnere mich an Mikey, in den ersten Tagen gebe ich seine Lehre an alle, die es wissen – und auch an all diejenigen, die es nicht wissen wollen – weiter. Ich sage „Einmal Happy Birthday pro Waschgang“.
Mikey – gespielt von Elijah Wood in Ang Lees „The Ice-Storm“ – ist ein Heranwachsender, distanziert und seltsam entrückt, als wäre er von der eignen Gegenwart isoliert, er hegt eine bizarre Vorliebe für Moleküle und ihre Interaktion mit den Menschen bzw. wie und ob Moleküle das menschliche Verhalten beeinflussen. Wahrscheinlich werde ich die Szene nie vergessen, in der er seine Mitschüler unterrichtet, dass sie sich bei jedem Toilettengang bewusst werden sollten, dass sie atmen, was sie riechen, in Form von winzig kleinen Molekülen. Dabei wissen wir jetzt, dass gefährlicher ist, was wir nicht riechen.
Mikey ist selbstverständlich ein zwanghafter Hygieniker und Händewascher. Seine Faustregel lautet: 1x Happy Birthday pro Waschgang. Ich habe mir diese Faustregel seit 1997 eingeprägt. Er wird mit reinlichen Händen sterben, er stirbt einen symbolischen Tod und darüber hinaus stirbt er an den Molekülen. Als ein Eissturm seine Heimatstadt erreicht und alles gefrieren soll, ist Mikey fasziniert davon, dass nun alle Moleküle „still stehen“, die Luft endlich rein sein wird. Er will diese Reinheit unbedingt erleben und wird letztlich von einer abgerissenen Stromleitung getroffen, bevor er, das Gesicht dem Asphalt zugewandt, leblos übers Eis in den Abspann schlittert. Er hat eine Gefahr gegen die andere getauscht. Mikey ist es, an den ich täglich denken muss, während ich meine Hände wasche und Happy Birthday singe, an seine kindliche Theorie über Moleküle und wie sie unsere Verhaltensweisen tatsächlich und täglich verändern, was unveränderlich und auf Ewigkeit konditioniert schien.
Zu Beginn verlor ich den Handschlag, den Händedruck, man streckte gegenseitig die Hände aus und zog sie ratlos zurück. Später verlor sich auch dies, man zuckte die Schultern, was übrig blieb, war Ratlosigkeit. Eine Ratlosigkeit, an die wir uns gewöhnen sollten. Ein Händedruck bewahrt den Frieden, heißt es, denn sind die Hände an einander gebunden, gibt es keine Möglichkeit handgreiflich zu werden.
Celan schrieb einst, ein Gedicht gleiche einem Händedruck. Was er, so denke ich, auszudrücken suchte, war, dass Gedichte wie Gesten eine unmittelbare Form zwischenmenschlicher Kommunikation leisten. Selbst blinde Kinder, lese ich, kommunizieren untereinander selbstverständlich mit Gesten. Zu Beginn verlor ich also eine Sprache, die Sprache meiner Hände, die anderer Hände. Weitere Sprachen werden folgen. Bleibt fraglich, wann wir vor lauter Sprachlosigkeit handgreiflich werden.
Meine Hände sind nun Teil meiner täglichen Beobachtung, sie sind mir nicht mehr selbstverständlich, sie befühlen und betasten alles und verteilen kleine Moleküle auf meinem Gesicht. Mein Gesicht und meine Hände hegen ein erstaunliches Intimverhältnis, das sich, wie ich nun bemerke, meiner Kontrolle weitestgehend entzieht. Ich argwöhne meinen Händen, ich stelle sie unter Aufsicht, aber sie gehorchen einfach nicht. Alle Berührungen werden plötzlich fahrlässig, schlicht gefährlich. Ich begutachte den verpackten Salat im Supermarkt, ich packe ihn wegen fauliger Stellen zurück und nehme einen anderen, eine Frau beobachtet mich aufdringlich, um mich plötzlich anzugreifen und mir lauthals meine Schande vorzuhalten: Ich verteile mutwillig meine Keime auf der Verpackung und lege sie zurück, ich bin eine Gefahr für dritte. Ich wasche meine Hände in Schuld. Ich bin fassungslos und verschwinde vom Tatort, als ich mich umsehe, sehe ich die selbe Frau, wie sie die abgepackten Salate durchwühlt und ich wünschte für einen Moment, ich hätte meine Hände nicht desinfiziert. Das ist der Eissturm denke ich, wir tauschen immer eine Gefahr gegen eine andere. Wenn wir an Sprache verlieren, werden wir handgreiflich. Ich wünsche mir meiner, unserer Hände Unschuld sehnlichst zurück. Happy Birthday.
(nh)