(I)
Ein Gespräch über Tatort. Ich sage, dass mich die Obduktionsszenen, die dortige Zurschaustellung der Leichen, das viele Sekunden andauernde bildliche Verharren auf den toten Körpern irritiere, wahrscheinlich befremde, es mir unangemessen erscheine. Mein Gegenüber entgegnet, dass die ausgiebige und beständige Präsentation der Toten mit Absicht geschehe. Sie sei willkommen und notwendig, nachdem die sterbenden Körper nicht mehr im Zuhause gebettet werden, sondern in den Krankenhäusern liegen, die Toten nach ihrem Tod nicht mehr zu sehen sind, haben so zwölf Millionen jeden Sonntagabend die Gelegenheit, die Toten zu sehen.
(II)
Die Toten sind Zahlen. In den ersten Wochen verfolge ich die Zahlen täglich, ihr allmähliches Entgleiten. Das Erreichen gewisser Größen erscheint mir unvorstellbar. Ich frage mich, wie ich dann reagieren werde, was die Welt dazu sagen wird: zehntausend Tote, fünfzigtausend Tote, hunderttausend. Als ich diesen Text schreibe, stirbt der millionste Mensch am Virus. So wie ein siebenmilliardenster Mensch geboren ist, ist ein millionster gestorben. Die Zahl Million ist ebenso von Bedeutung wie die Zahl achthunderttausenddreihundertneunzigsiebzig, so wie Siebenmilliarden von Wichtigkeit ist wie SechsmilliardenSiebenhundertNeunundDreißigmillionenSiebenhundertEinundZwanzigtausendAchthundertDreiundVierzig. Jede Zahl ist ein neues Leben, jede Zahl ist ein verlorenes Leben. Doch nur die runde Zahl schreckt mich auf. Die Million wird zu einem Zeichen. Sie ist vermeintliche Pause in einer Abfolge von Geschehnissen. Während ich das schreibe, ist der millionste+1 Mensch am Virus gestorben. Diese Zahl ist kein Zeichen mehr.
(III)
Der Tod der Toten ist umstritten. Eine Präposition entscheidet über die Einordnung ihres Todes. Mit oder durch SARS-CoV-2 gestorben. Im April obduziert ein Pathologe in Hamburg die Toten. Die Präposition mit wird vor Corona gestorben gesetzt und gelangt in die Welt. Dort wird sie begierig aufgegriffen. Von nun an ist mit einer der vielen Grenzzäune, hinter denen sich einige bei Diskussionen verschanzen, diese Präposition, glaubst du an durch, glaubst du an mit.
(IV)
Die Toten sind Bilder, nicht der tote Körper. Ich sehe Sterbende. Sie sind sediert, auf den Bauch gedreht, in ihre Körper Schläuche eingeführt. Sie liegen auf der Intensivstation, ihre Gesichter unter Decken verborgen. Ich weiß nichts von ihnen. Sie sind Bild für (I) die Überlastung der Intensivstationen und (II) die Grausamkeit des Sterbens durch das Virus; ein Ertrinken, ein einsames Sterben, die Krankenschwester hält das Smartphone, mit dem der Sterbende mithilfe einer App Abschied nimmt von seinen Lieben. Bei keinem Bild kann ich sicher sein, ob ich ein Sterben sehe, ob der Sedierte überlebt. Ich denke nicht darüber nach, ich will es nicht wissen. Ich lese die Zahlen; von den künstlich Beatmeten sterben fünfzig Prozent. Jeder Zweite, den ich auf diesen Bildern sehe , ist gestorben.
(IVa)
Die Toten sind Bilder. Es sind die Bilder der Armeefahrzeuge in Bergamo, die die Särge abtransportieren. Es sind die Drohnenaufnahmen der Massengräber, die vor New York gegraben werden. Es sind die Bilder der Kühlwagen, die vor die Krankenhäuser gefahren werden. Es sind die Särge, die sich an nicht dafür vorgesehenen Orten stapeln.
(IVb)
Diese Bilder der Toten zirkulieren am Anfang der Pandemie. Sie prägen ihre Wahrnehmung, auch, wenn sie weit weg sind. Die Bilder haben Folgen, weil sie als Warnung zu verstehen sind. Weil die Kühlwagen auch vor das Sophien- und Hufeland Klinikum Weimar fahren könnten, trage ich in Weimar eine Maske.
(VI)
Mehr als Bilder sind die Toten: als Traueranzeigen, die seitenlang die italienische Regionalzeitschrift L`Eco Di Bergamo füllen. Ich spreche die Sprache nicht, aber ich sehe die Fotos, Männer und Frauen, fast ausschließlich Alte, über jedem Foto ein Kreuz.
Mehr als Bilder sind die Toten in einem Artikel der New York Times, der das Leben von tausend Gestorbenen jeweils in einen Satz fasst; »Er wollte sein Leben lang in der Nähe des Ozeans sein«, »Gerade Vater geworden«, »Die Vögel im Hinterhof haben ihr aus der Hand gefressen«.
Mehr als die Bilder sind die Toten in einem Text, in dem das Leben von fünfzehn Gestorbenen in jeweils eine Zeitungsspalte geschrieben ist. Einer der Gestorbenen stammt aus dem Nachbardorf meines Heimatorts. Obwohl ich ihn nicht kenne, bringt die räumliche Nähe eine Bedeutung über die Zahlen hinaus.
(VII)
Die Toten sind Zahlen. Es wäre nicht zu ertragen, wäre es anders.
(sp)