Humor

Humor von Dana Berg


für Z. G. & B. K.

Wenn man keine Geschichten erzählt,
können sich die Menschen nicht entwickeln,
doch wenn man nicht lacht,
kann man keine Geschichten fertigbringen,
und wenn man nicht lacht und keine Geschichten erzählt,
kann man auch die Welt nicht voranbringen.

Xiao Fu


Voila. Das ist eine Bühne. Sie funktioniert, wie der Flaschenöffner eines Philosophen, der mit einer Flasche und ohne Öffner ratlos in der Pampa steht. Flaschenöffner und Bühne sind folglich postuliert. Es gibt einen Regisseur, denn, wo eine Bühne ist, gibt es immer einen Regisseur (ausgenommen die sozialen Medien). Falls es nicht Gott ist, muss es Beckett sein. Wenn es Beckett ist, könnte es auch Gott sein, aber das ist Geschmacksache. Wenn es einen Regisseur gibt, wird wahrscheinlich etwas oder nichts gespielt. Es wird auf jeden Fall gespielt. Das liegt in der Natur der Sache. Es ist nicht einfach auszumachen, wer auf oder wer vor der Bühne oder – wie immer – daneben sitzt. Noch weniger ist auszumachen, wer gerade spielt, was da gespielt wird. Offenkundig handelt es sich um ein Drama. Goethe vermeint, wenn wir sollen, ist es eine Tragödie, wenn wir wollen ist es ein Drama. So ungefähr. Sollen und Wollen sind momentan nicht sehr deutlich zu unterscheiden, das klingt schon nach Freiheit und Notwendigkeit, ach, Schelling, das klingt zu philosophisch. Ich fasse zusammen: Wir wollen raus, sollen aber drinnen bleiben. Da lacht sich die Sonne was. Drama oder Tragödie. Goethe schweigt, zurecht.


Das ist eine kleine Bühne, nur etwas größer als ein Flaschenöffner, sie befindet sich auf der ganz großen, die man gemeinhin Welt zu nennen pflegt. Ich sitze gekrümmt am Bühnenrand, seit Tagen sitze ich so, es könnten aber durchaus Jahre vergangen sein, mindestens eines, scheint mir. Es ist ein ambitioniertes, zeitgenössisches Stück, das auf neue Vermittlungstechniken setzt, die Schauspieler*innen rufen mich an. Mich ist das Publikum. Es ist also ein Multipersonenstück für ein Publikum: Mich. Das Stück läuft seit einem Jahr. Charaktere werden sorgsam eingeführt, das nennt man Exposition. Zum Beispiel ist da eine Frau, ganz exponiert, der Name tut nichts zur Sache, das Alter schon und auch die Stadt, in der sie wohnt, denn die Stadt ist sehr teuer und hat, obwohl oder gerade weil die Stadt so reich und damit notwendigerweise teuer ist, nur ganz wenig Platz für ältere Frauen mit kleinem Portmonee. Die Frau soll nun aus der Stadt, wegen dem Portmonee. Die Frau will aber nicht, aus Gründen. Wegen dem Alter, kann sie nicht. Sie hat kein Auto, muss aber viel fahren. Sie fährt für uns alle, sie macht Schrift, davon wollen wir aber nur geringfügig Kenntnis nehmen. Zahlen wollen wir dafür keinesfalls. Die Frau fährt besonders viel, um die Wohnung in der Stadt zu finanzieren. Sie muss also viel weg, damit sie bleiben kann. Das nennt man Ironie oder Peripetie oder Kapitalismus. Die Frau hat auch einen Freund. Ich korrigiere, die Frau hatte kürzlich noch einen Freund. In der Zeitform ist alles bereits erzählt, was immer es zu erzählen gibt, liegt zwischen hat und hätte. Wenn die Frau auflegt, ruft manchmal ein Mann an. Es geht in diesem Stück sehr ausgeglichen und divers zu, wirklich beachtlich. Der Mann hatte bis vor kurzem auch einen Freund. Auch mit einem Portmonee hat er zu tun, immer ist es schmal und hohlwangig, so ein ganz hohlwangiges Portmonee, das man es am Liebsten hingerissen vor Mitgefühl und Größenwahn füttern möchte. Der Mann hat eine Krankheit, nein, nicht die Krankheit, sondern eine andere, deshalb muss er sich umso besser hüten, denn er ist nicht nur beschädigt, sondern auch bereits angetagt, also von den Jahren angezählt. Getagt, würden die Kids sagen. Das sind nur zwei Figuren, ich könnte beliebig weitermachen. Viele Figuren sprechen über ähnliche Dinge. Die Dinge variieren, was so vorgetragen wird, wandelt sich mit der Zeit. Zuerst dachte ich, es ginge um Arithmetik oder höhere Mathematik, zumindest um Zahlen, zwischendurch ging es um Gesetze und ihre Gründe und Menschen, die mit den Gründen oder den Gesetzen nicht einverstanden waren und solche, die es waren, aus Gründen. Es gab einen sauberen Konflikt. Es ging um Geld, da es immer um Geld geht, höre ich in diesen Momenten nur sehr schlampig zu und lese derweil „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das gehört sich nicht, ist aber unerlässlich fürs innere Wohlbefinden. Einer ruft an und sagt, ich bin dein Mann, er sagt, er habe ein inneres Drama, das müsse er nun pflegen, darauf müsse er sich nun konzentrieren, da sei keine Zeit für Publikum. Auch das hat mit dem Geld, besonders mit dem Geld, das man nicht hat, zu tun, was zurecht ein Drama oder eine Tragödie genannt werden kann, aber auch mit Kindern, nämlich seinen und dieser Sache, die sich Existenz nennt. Apropos die Kinder, eine Frau gibt sich als meine Mutter aus, sie spielt wirklich beachtlich: Sie ertrage es nicht länger, sie will ihre Kinder sehen. Ich will meine Kinder sehen, sagt sie, genauso. Es ist ein kurzes, aber sehr anrührendes Stück. Es läuft seit März 2020, da bin ich mir sicher. Wo Kinder sind, ist immer auch Angst. Die Angst der Eltern und die der Kinder, vor der Angst der Eltern. Dann setzt die Katastase ein und mit ihr die Wut. Es gibt sehr viel Wut in diesem Stück. Es wird gepoltert, geschrien, es gibt Opfer zu beklagen. Seit Januar wird in diesem Stück vermehrt von Toten gesprochen, auch vom Tod, es wird sehr ausufernd gestorben, so kann es keinesfalls weitergehen, denke ich, denn dann wäre das Stück bereits bald zu Ende, nämlich tot und ich freue mich doch so auf die Katharsis. Nach den Toten kam sogleich das Wetter. Das ist sehr üblich, aber nicht kathartisch, so lerne ich, wie man von einem zum anderen schreitet. Vom Abstrakten zum Konkreten. Tod und Wetter sind beide unausweichlich. Grau könnte man das Stück nennen, aber ich bin mir sicher, Beckett weiß es besser. Es ging um die Grauigkeit, diese Grauness innen und außen. Auch um den Schlaf, also des Graues Bruder. Der irgendwie fehlt, obwohl man den ganzen Tag schläft. Kennst Du das?


Und ich will sogleich antworten, aber es ist ja nur ein Stück und die Frage also eine rhetorische, das hab ich sofort durchschaut. Ich will nicht der Plebs der Ränge sein. Nach den Toten und der Grauigkeit, die ein allgemeines Grausen verbreitete, kam der Körper, diese einjährig verkrümmten Körper, die Bühnenkörper meldeten sich nun selbst und ergriffen zu Wort, sie ragten durch die Münder, sie ragten von ihren Sitz-liege-Verkrümmungen auf: Ich habe Rücken, sagt eine Stimme. Eine andere, die nichts von der vorherigen weiß, hat Knie. Auch Herz hat jemand oder einen Tennisarm. Vorstellbar ist auch jemand ohne Herz und Arm oder war es ohne Hand und Verstand, dafür aber mit Tennis. Ich weiß nicht mehr. Roger Federer wüsste es.


Da es ein ambitioniertes Stück ist, also modern, gar postmodern, soll ich auch mal was sagen sollen / wollen. Mich so richtig in Szene setzen. Inszenieren. Schimpfen wäre auch fein. Aber ich bin ganz ausgeschimpft und ehedem leide ich an akuter Unterschimpfung. Ich bin erschöpft, will ich schon sagen. Ich bin ganz ausagiert, sage stattdessen: Ich habe Humor. Ich habe diesen kleinen Muskel, der abstirbt, irgendwo da, schau mal, der so untertrainiert ist, wie mein linker Oberschenkel, ganz schlaff. Ich habe Humor, was nur meint, nach der Hape-Kerkelisierung von Welt: Der ist defekt. Der ist putt. Das ist eine Tragödie, rufe ich, weil ich soll und das nennt man eine Klimax oder eine Katastrophe, oder beides.


Eine Frau ruft an. Wie gerufen. Ich kenne die Frau bereits. Sie sagt, das Leben habe nicht nur Schattenseiten, sondern auch Nachteile. Ich bin sehr einverstanden mit dem Stück, es gewinnt an Tiefe, denke ich. Die negative Botschaft: Das kommende Jahr wird erheblich schlechter als das ablaufende. Die positive Botschaft: Das kommende Jahr wird erheblich besser als das darauffolgende. Das könnte die Frau gesagt haben, das sagte aber Hermann Otto Solms. A, ha. Ich bin immer noch sehr einverstanden, nur nicht mit der FDP, aber das tut nichts zur Sache. Einer sagt: Es genügt nicht, keine Ideen zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.


Ich rufe selbsttätig, im Sinne postmoderner theatralischer Ermächtigung eine Freundin an. Sie mischt sich sehr gerne in Stücke, besonders die tragischen ein. Sie liebt Molière und hat immer ein Extra-Ensemble auf Tasche, das überall zum Einsatz kommen kann. Ihre Figuren haben kurze Namen, maximal Zweisilber und oft mit einem hübschen A ausgestattet. Hannes oder Janka oder Sara, das kann sogar ich mir behalten. Ihr Name ist dreisilbig, es gibt zwei Z’s (Zette) ein U und zwei A (Ata). Ich denke, das hat alles miteinander zu tun, aber vielleicht täusche ich mich. Tut nichts zur Sache. Die Freundin sagt, erst warst du trist, nun bist du auch noch unleidlich. Seit einem Jahr, sage ich, sitze ich in diesem Stück fest, ich sitze in den Tragödien und Dramen, den kleinen und großen, ich klemme und retardiere, immer wieder zurück auf den Nullpunkt, das Stück entwickelt sich einfach nicht. Wie wir alle, bleibe ich unerlöst. Ich sage, verzeih und sieh mal hier, das ist defekt. A ha, konstatiert Sie: Du hast akuten Humor.


Kommt ein Priester, ein Rabbi und ein Pferd die Treppe herauf, sagt meine Freundin. Nein, das sagt sie nicht, denn das Pferd steht in der Badewanne auch ohne geistlichen Beistand. Das ist immerhin ein Anfang. Schon wird eine neue Bühne ausgepackt, sie dreht sich sogar, was einen schnellen Auf- und Abgang und allerlei Effekt ermöglicht. Man sieht sogleich, meine Freundin ist vom Fach. Sie kommt übrigens aus einem fernen Land. Ganz, ganz früher, so Vorzeit, ist sie, so steht es geschrieben, als kleine Heugarbe oder Zwergtanne über eine Grenze geschlichen. Das tut wirklich zur Sache. Ihr Land einst und mein Land jetzt, trennt vieles, vor allem der Humor. Jeder Tragödie wohnt eine Komödie inne. In meinem Land ist es umgekehrt: Jeder Komödie wohnte eine Tragödie inne. Das könnte am deutschen Film liegen, darüber wäre sinnvoll zu spekulieren.


Meine Freundin hat übrigens auch ein Portmonee, dafür muss sie sich aber nicht interessieren, denn sie hat eine Erbschaft angetreten. Von einem Johann hat sie die, der sich sorgte, dass sein Kopf platzen könne und wenn es soweit sei, könne er nur seine Witze hinterlassen. Sie hat die Erbschaft aufgeschrieben oder mitgeschrieben, also die Witze. Ein Lebensproviant. „Eine Erbschaft ist ein Nebenerwerb, eine nicht beabsichtigte Aneignung, die nichts mit Arbeit zu tun hat. Eine Zueignung.“


Ich lausche ihr sehr zugeneigt. Da sie sich um ihr Portmonee nicht sorgen muss, teilt sie mit mir ein Stück der Erbschaft. Ich dürfe mir etwas aussuchen. Eigentlich will ich das Pferd in der Wanne, ich entscheide mich aber für dieses kleine Stück, denn auch eine Erbschaft will anständig gespielt werden. Wir holen den Regisseur selbst auf die Bühne: Der liebe Gott (oder der liebe Beckett) und sein Sohn spielen miteinander Golf. Gerade hat sein Sohn ausgeholt und den Ball so prächtig angestoßen, dass der über eine weite Strecke schnurgerade auf das Loch zurollt. Zehn Zentimeter vor dem Ziel bleibt er liegen, ein Hase hüpft herbei, schnappt den Ball, ein Adler stürzt herbei, ergreift den Hasen und fliegt mit ihm rasch in die Höhe, unmittelbar darauf kommt ein Gewitter auf, ein Blitz trifft den Adler, der lässt den Hasen fallen, der seinerseits den Ball fallen lässt, der mitten im vorgesehenen Loch landet. Der liebe Gott (oder der liebe Beckett) hüstelt und fragt heiser: „Wollen wir herumalbern, oder spielen wir jetzt Golf.“


Ich spiele Tennis, sage ich, auch ohne Arm, aber mit Roger Whitaker. Ich würde gerne albern. Ich trete die Erbschaft an und beginne ein Einpersonenstück für ein Multipublikum. Ich rufe zuerst die Frau auf der Schattenseite an. Ich hätte gern Vanille, sage ich. Wir haben nur Schoko, sagt sie. Gut, dann nehme ich Frucht, sagen wir unisono und mein linker Oberschenkel strafft sich wieder, wie die Haut einer Orange. Wir lachen – das ist eine anthropologische Konstante.

(nh)