Äußere Ordnung ist oft nur der verzweifelte Versuch,
mit einer großen inneren Unordnung fertig zu werden.
Albert Camus
Ich kann nicht schlafen, der Schlaf der Gerechten ist mir fremd, seit ich die Pubertätsgrenze passierte, ich ziehe meine traurigen Schlüsse. Neuerdings höre ich die Nächte hindurch, höre stundenlang Gespräche über Gott und die Welt mit Gott und der Welt. Ich höre erstaunlich oft Menschen, die in ihrer Selbstvorstellung von ihrer ganz normalen Kindheit berichten, auffällig oft in Zusammenhang mit dem Prädikat „glücklich“. Ich hatte eine ganz normale glückliche Kindheit, sagen sie, sagen so viele, dass es mich sogar im Halbschlaf noch aufhorchen lässt. Dieses normale Glück. Glück und normal scheinen sich in diesen Erinnerungen zu entsprechen, einander zu bedingen, auch das geglückte Leben der erfolgsverwöhnten Selbstvorsteller*innen scheint sich folgerichtig von so einer normal-glücklichen Kindheit abzuleiten. Als glücklich wird, so bleibt zu vermuten, die ereignislose Zeit zwischen Sonnenauf- und abgesang empfunden, eine Zeit ohne Verantwortung, mit festen, wenn auch harmlosen Routinen, Regeln und Pflichten, eine Welt, die reibungslos funktioniert, voller wohl temperierter Abenteuer und kindgerechter Gefahren.
Wenn ich diesen Menschen zuhöre, ahne ich, dass ich nicht weiß, was Kindheit ist. Die glückliche, also geglückte Kindheit ist mir eine Sache des Hören-Sagens.
Ich hatte eine ganz normale unglückliche Kindheit, möchte ich gerne erwidern. Dass Kindheit immer mit Unglück einhergeht, erschien mir nicht nur normal, sondern tautologisch. Ich hatte also eine ganz normale Kindheit, schon das Wort Unglück wäre zu viel, es kommt mir nur in den Sinn, da das Glück so eifrig herbeizitiert, herausgefordert wird.
Vielleicht bestimmt nur ein wohldosiertes Unglück meine Normalität, bzw. die Abwesenheit von Glück. Normal wäre demnach eine Sache der Gewohn-, letztlich der Faulheit. Überhaupt zweifele ich an allem, was normal ist, am Begriff der Normalität höchst selbst. An allem, was Normen setzt, die wiederum erst offensichtlich werden, wenn man gegen sie verstößt bzw. vom Normierten, also dem Vereinheitlichten, der Richtschnur abweicht. Abweichler! Normal ist das nicht, nur normativ. Was galt nicht alles als normal, entsprach einer gesellschaftlichen Übereinkunft, was wir heute so gerne hinter uns wissen wollen und als anormal oder undenkbar verwerfen. Schauermärchen aus grauer Vorzeit, eine graue Vorzeit, die nur wenige Jahrzehnte zurückliegt. Die anhält, so grau-grau und der Norm entspricht: vorschriftsmäßig, gewöhnlich, allgemein üblich, durchschnittlich, geistig gesund, weiß und christlich. Einfach absurd.
Ein amerikanischer Hühnerzüchter sagt in einem Interview: „Das Anormale wurde zur Normalität.“ Er spricht von Hühnern, die nicht mehr überlebensfähig, reines Mast-Vieh, ein abstraktes Produkt sind: „Die Tiere humpeln, lahmen oder können sich aufgrund der Schmerzen gar nicht mehr fortbewegen. Viele sterben am plötzlichen Herztod. Die Todesrate der Hochleistungshühner ist im Vergleich zu langsam wachsenden Masthühnern um das Vierfache höher.“ Ganz normal. Mit der Zeit wird nämlich selbst der größte Skandal zum Klischee, schreibt Martin Gross, und somit zur Norm.
Ich höre immer öfter von der „neuen Normalität“ (mehr moros, denn oxys). Mal ist sie ein Zukunftsversprechen, auf ein Leben nach der Pandemie, mal ist sie eine Beschwörungsformel, die uns gemahnt, uns besser an den Ist-Zustand zu gewöhnen. Was eben noch Ausnahmezustand, Krise ist, könnte Normalität werden. Wer Krise sagt, muss beurteilen, was der Normalzustand ist. Was aber, wenn die Krise unserer Normalität entspricht? Ist die Krise qua Geburt nicht unser eigentlicher Zustand, also das, was wir Normalität zu nennen pflegen.
Elisabeth Asbrink sagt, wir seien „friedensgeschädigt“. Wir sind kindheitsgeschädigt, möchte ich erwidern. Aber das wäre tautologisch.
Die neue Normalität ist vielleicht eine dauerhafte Krise, eine Krise, die niemals abwesend war, sich aber gut verleugnen ließ, solange das Nest nur behaglich genug (auf dieser Seite der Hemisphäre) war. Vielleicht ist Normalität nichts anderes, als unsere unglaubliche Befähigung zur Verdrängung. Der kurze Zwischenraum, zwischen den Katastrophen, indem wir nach Luft schnappen, wie traurige Karpfen, in der Hoffnung, wir seien über Nacht in eine sinnvolle, sinnstiftende Welt geworfen worden. Doch wer hofft, hat laut Camus, bereits verloren.
Wenn ich gerade einmal nichts von Gott und der Welt höre, schalte ich die Nachrichten ein, neben Gregor Gysi steht Jörg Meuthen. Ich schalte den Ton ab. Ein tableau vivant. Ganz normal. Die graue Vorzeit ragt in meine Gegenwart. Verstößt man nur lange und ausdauernd genug gegen Normen, wird der Verstoß zur Norm und das Anormale wird zur Normalität.
Unsere gesellschaftlichen Übereinkünfte, unsere sogenannte Normalität, erscheinen mir außerhalb jeder Norm, eigentlich sind wir nicht überlebensfähig, so friedensgesättigt. Maximal sind wir absurd. Wir verschieben die Grenzwerte des Erträglichen täglich, solange es in unserem Nest nur behaglich genug ist, wir verlängern unsere Kindheit und wünschen uns eine Zeit ohne Verantwortung, mit festen, wenn auch harmlosen Routinen, Regeln und Pflichten, voller wohl temperierter Abenteuer und kindgerechter Gefahren. Wir spielen Räuber und Gendarm, während die Welt kollabiert. Da so lange Frieden herrscht, zumindest diesseits der Hemisphäre, erleben wir eine ganz normale glückliche Kindheit, dass wir darüber vergessen konnten, erwachsen zu werden, bis uns die Gegenwart untergrub.
Ganz normal oder einfach absurd.
(nh)