Immer stärker bestimmen Rechte,
worüber wir reden. Sie diktieren die Inhalte,
mit denen wir uns beschäftigen. Sie diktieren
die Form, in der wir uns miteinander beschäftigen.
Sie errichten eine Diktatur der immerwährenden Wiederholung –
bis wir das glauben, womit sie uns beschäftigen.
Bis wir uns selbst vergessen.
Kübra Gümüsay
Es war der 03. Oktober 2020, der Tag der Wiedervereinigung oder der Tag, wie Kritiker*innen betonen, an dem die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bedingungslos beitrat. Manche sprechen von Annexion, feindlicher Übernahme, gar von Kolonialismus. Noch immer geht es um Deutungshoheit. Willy Brandt sprach einst mit Bedacht von Neuvereinigung, er befürchtete, dass der Begriff Wiedervereinigung als Rückkehr zum Bismarck- – oder schlimmer – zum dritten Reich und dessen Grenzen missverstanden werden könne.
Vor 30 Jahren stand Richard von Weizsäcker auf der Freitreppe des Bundestags und benannte die Rechtsextremist*innen deutlich als ewig Gestrige. Weizsäcker erklärte, dass das Grundgesetz nun für alle gelte. Wir sind das Volk, so sagte er, mit diesen vier einfachen und großen Worten wurde ein ganzes System erschüttert und zu Fall gebracht. In diesen Worten verkörperte sich der Wille der Menschen, das Gemeinwesen, die res publica, selbst in die Hand zu nehmen. (…) Demokraten hatten sich zusammengefunden, mit dem Ziel der Freiheit und der Solidarität, beides in einem ein Auftrag für uns alle.
30 Jahre später werden die ewig Gestrigen, die längst die ewig Heutigen sind, die Freitreppe mit Reichsflaggen besetzen, sie wollen den Bundestag „stürmen“. 30 Jahre später, geben sie vor, das Grundgesetz zu schützen. Sie deklamieren: Wir sind das Volk. Während das restliche Volk aus der Fassung gerät.
Wir sind das Volk deklamieren auch die sogenannten „Querdenker“, die sich am 03. Oktober in Konstanz einfinden, um eine Menschenkette von Grenze zu Grenze zu schließen, auch sie wollen das Grundgesetz schützen, jedoch nicht zu den ewig Gestrigen zählen. Dabei rufen sie auf Plattformen zur Überwindung der ideologischen Barrieren auf: Links und Rechts sind pas¬sé, nun gehe es um die gemeinsame Sache, ums Volk, das Grundgesetz, Rechtsstaatlichkeit oder was auch immer, in Zeiten der Krise müsse man die alten Gräben überwinden und zueinander finden. Es wird unverhohlen zum gemeinsamen Kampf aufgerufen.
Ich bin gewiß, daß es uns gelingt, alte und neue Gräben zu überwinden. Wir können den gewachsenen Verfassungspatriotismus der einen mit der erlebten menschlichen Solidarität der anderen Seite zu einem kräftigen Ganzen zusammenfügen. (Richard Weizsäcker vor 30 Jahren)
„Sie demonstrieren also für ihr Recht zu demonstrieren?“ fragt ein Moderator. „Genau.“ antwortet Michael Ballweg – der das Recht für eine Demonstration, durch einen Widerspruch erfolgreich in dem Rechtsstaat einklagen konnte, der seiner Meinung nach in Auflösung begriffen ist – in einer Radiosendung.
Vor 30 Jahren war ich 9 Jahre alt, ich bin „über Nacht“ in eine Herrschaftsform gewürfelt wurden, die ich nicht erkämpfen, sondern unhinterfragt übernehmen durfte. Demokratie war mir eine Selbstverständlichkeit und nun lerne ich, wie unselbstverständlich, wie brüchig diese Form ist, die ich für unverbrüchlich hielt. Nur eine Demokratie duldet den Widerspruch, nur eine Demokratie duldet, was sie so verletzlich macht. Das ist nicht einfach auszuhalten und noch schwerer zu ertragen, dass eine Demokratie auch antidemokratische Kräfte dulden muss. Dass ausgerechnet jene am meisten vom Recht auf Meinungsfreiheit profitieren, die dieses Recht mit enervierender Beharrlichkeit in Abrede stellen.
„Sie demonstrieren also für ihr Recht zu demonstrieren?“ – „Genau.“
Es ist ein Spiel um die knappe Ressource Aufmerksamkeit und sie alle gewinnen, ob Querdenker*innen oder Extremist*innen. Es beruht auf simplen Mechanismen und wir fallen mit berechenbarer Wahrscheinlichkeit – nach wie vor – darauf herein, wir spielen, wir skandalieren mit, auch wenn wir nicht wollen, weil wir uns des Spiels noch immer nicht bewusst sind und uns die feinen Unterschiede zwischen Ignoranz, Toleranz und Intoleranz schier zerreißen. Jeder Eklat, jede Eskalation, jede Empörung ist willkommen und kalkuliert, es sind die gängigen Währungen in einer Welt, die Guy Debord erblassen lassen würde. Während wir kaum begreifen, was wir sehen; und uns noch den Kopf zerbrechen, ob wir besorgte Eltern, Hippies, Esoteriker*innen und Extremist*innen in einen Topf werfen dürfen, formieren sich bereits die nächsten Kundgebungen und Demonstrationen und unterhöhlen demokratische und ethische Grundwerte nach bewährtem Muster. Grundwerte, auf die sich unsere Gesellschaft verständigt hatte, angesichts zweier Weltkriege, verständigen musste, die erfolgreich ausgehandelt und verschriftlicht wurden.
Ich sortiere nichts, die Welt ist ambig und komplex, gewiss, aber manchmal unglaublich einfach. Wer mitläuft, läuft und skandiert mit und legitimiert dadurch die inakzeptablen, menschenfeindlichen Meinungen, der wenigen, die längst zu viele sind. Das ist mein Gebrauch der Meinungsfreiheit.
Ambivalenz, die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen, ist eine sprachspezifische Unordnung: ein Versagen der Nenn- (Trenn-) Funktion, die Sprache doch eigentlich erfüllen soll. Das Hauptsyndrom der Unordnung ist das heftige Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir außerstande sind, die Situation richtig zu lesen und zwischen alternativen Handlungen zu wählen. Zygmunt Baumann diagnostizierte in den 90ern die Moderne als Zeitalter der Ambivalenz, da uns unsere Ordnungs- und Klassifierzierungssucht und- not, unser Hang zum Dualismus in die Verzweiflung treiben, da jede Problemlösung, immer mehr und größere Probleme schaffen werde. Er schrieb auch: Eine ordentliche Welt ist eine Welt, in der man „weiter weiß“.
Die Welt ist unordentlich und niemand weiß weiter. Dafür gibt es Demokratie … als Ersatzverfahren, weil man es besser nicht weiß. Und weil die letzte Wahrheit tatsächlich nie zu bestimmen ist, muss man eben immer wieder abstimmen, um zu Entscheidungen zu kommen. Denn entschieden werden muss. Auch dann, wenn uns das Wissen fehlt, um verantwortungsvoll entscheiden zu können. (Ijoma Mangold)
Vor 30 Jahren war ich 9 Jahre alt, ich bin „über Nacht“ in eine Herrschaftsform gewürfelt wurden, die ich nicht erkämpfen, sondern unhinterfragt übernehmen durfte. Demokratie ist mir eine Selbstverständlichkeit. Ja, Demokratie ist gelebter Widerspruch und wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, die lustvoll vom Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch macht. Das ist nicht immer einfach auszuhalten. Ich erlebe den Verlust an Kontrolle, den Baumann prophezeite, wenn sich die sprachlichen Mittel als kategorisch inadäquat erweisen. Ich erlebe das Zeitalter der Ambivalenz, zwischen Deutungshoheit und Deutungsnot.
So darf es nicht bleiben. Wir müssen uns zunächst einmal gegenseitig besser verstehen lernen. Erst wenn wir wirklich erkennen, daß beide Seiten kostbare Erfahrungen und wichtige Eigenschaften erworben haben … sind wir auf gutem Wege, sagte Richard Weizsäcker vor 30 Jahren, ich will ihm gerne glauben und hoffe, wir sind nur kurz vom „guten Wege“ abgebogen, auch wenn ich befürchte, wir haben zulange versucht, zu verstehen, was nicht zu verstehen, zu akzeptieren, was inakzeptabel ist. Der gute Weg führt längst nur noch in eine Richtung.
„Was hält uns zusammen“ wird Olaf Schubert zum Tag der deutschen Einheit gefragt. „Die Grenzen, nach wie vor die Grenzen“, sagt er. Wenn eine Grenze weg ist, wird die andere, das merkt man, umso wichtiger.“ Corona hat die Grenzen nicht nur aufgehoben, sondern neu manifestiert. Das ist kein Widerspruch, sondern ein Paradox, das schwer auszuhalten ist.
(nh)