Worte

Worte von Dana Berg


Ich suche ein Wort, das die Pandemie beschreibt. Es ist März, ich stehe vor einem Spielplatz. Die Schaukeln, die Rutsche, die Wippe sind mit Absperrband gesichert, sie dürfen nicht benutzt werden. Ich muss meinem Kind erklären, warum das so ist, warum es nicht schaukeln, rutschen, wippen darf. Ich muss meinem dreijährigen Kind die Pandemie erklären.


Ich suche ein Wort.


Ich finde ein Wort. Das Wort heißt »Handteufelchen«. Es leitet sich von dem Wort »Zahnteufelchen« ab. Die Zahnteufelchen sind ein Synonym für Karies, der Wortstamm Teufelchen soll drastisch die Notwendigkeit des täglichen Zähneputzens verdeutlichen. In diesem März sind die Teufelchen nun auch an den Händen, erkläre ich, überall auf der Welt sind die Spielplätze gesperrt, weil dort die Handteufelchen sein können. Und die Teufelchen machen krank.


Mit welchem Wort beschreibe ich, was geschieht? Sage ich Corona, sage ich Covid-19, verzichte ich auf den Bindestrich, sage ich nur Covid, weil es die 19 sowieso einschließt? Sage ich Pandemie? Ausnahmezustand, Katastrophe? 2020? Was sage ich zu dem, was in der Pandemie ist? Welche Worte nehme ich dort? Ist das Sterben ein Ersticken, ein Ertrinken? Wie benenne ich die, die demonstrieren? Coronaleugner? Coronagegnerinnen? Covidioten? Nehme ich die seltsame Selbstbetitelung Querdenker? Eine Zeitlang habe ich es mit »die Coronawütenden« versucht, es klingt umständlich, es ist falsch, weil Corona nicht der Grund der Wut ist.


Wie nehme ich wahr, was geschieht? In meiner Umgebung geschieht die Pandemie nicht, nur die Folgen des Schutzes sind zu sehen. Das ist, was passiert. Ein Ausbleiben. Das nehme ich wahr. Will ich die Pandemie beschreiben, muss ich einen Verlust benennen.


Für einen Verlust passiert sehr viel. Ich sehe Bilder, Videos sehe ich, doch vor allem sind es Worte, welche die Pandemie für mich zeichnen. Meine Pandemie besteht aus Wörtern.


Von Anfang an prasseln Wörter auf mich ein. Ich muss mir die Sprache der Pandemie beibringen. Ich lerne Zytokinsturm, Spikeprotein, soziale Distanz. Bekannte Wörter werden mit einem anderen Sinn überschrieben, einer Coronabedeutung; Lockdown, Maske, Abstand. Ich beginne zu sammeln:



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Ich verliere die Worte. Mir ist es nicht mehr möglich, ausgedachte Worte zu schreiben oder zu lesen. Ich verliere die Fiktion, weil ich mich jeden Tag mit Realität vollstopfe. Am Ende erscheint jede ausgedachte Geschichte nichtig im Vergleich zu: Weil wegen Corona die Touristen ausbleiben, kapern Affen eine Stadt in Thailand. Im Horoskop einer Boulevardzeitung wird allen Sternzeichen empfohlen, zuhause zu bleiben. Ein Infizierter leckt den Handlauf einer Rolltreppe ab.


Ich gewinne die Worte. Im Februar beginne ich, täglich Worte zur Situation zu notieren. Zuerst still, bald öffentlich. Ich merke, dass mir diese Stunde am Abend beim Ordnen der Eindrücke von innen und außen hilft. Das Schreiben von Worten schafft ein Gefühl von Kontrolle, lässt mich glauben, dass das, was geschieht, sich in ein Datum tippen ließe, fein säuberlich durch Tage getrennt. Es ist ein Sammeln von Gedanken, auch ein neugieriges Beiwohnen beim Verändern einer Realität, ein Auflisten von Fundstücken, ein Zuschauen dabei, wie sich die Ausnahme verfestigt. Gegen das Verlieren setze ich das Tagebuchschreiben, will aus den verlorenen Tagen etwas Produktives holen.


Ich werde überschüttet mit Worten. In den ersten Wochen streamen die Worte auf mich ein. Alle versuchen sie, die und ihre Welt am Laufen zu halten. Die Lesenden sitzen mit Pyjama im Bett, am Küchentisch, vor ihrer Bücherwand, sie lesen mich voll, ich bin begeistert, es ist kreativ, die Krise ermöglicht einen neuen Zugriff auf das Lesen. Was ich sehe, wirkt ebenfalls verzweifelt, wie eine Ahnung, eine Vorwegnahme dessen, was im Coronajahr mit dem Lesen, den Worten und den Büchern passieren wird, der Kunst und Kultur, das Verblassen und Zurückstellen.


Mir wird deutlich: Es ist der Welt nicht besonders wichtig, dass jemand Worte findet, um sie zu beschreiben. Auch wenn es komplexer ist, stimmt der Satz: In Österreich bleiben die Waffenläden geöffnet, die Buchläden schließen. Ich bin nicht überrascht, ich bin gekränkt, ich bin voller Sorgen. Ich, der Worte in die Welt bringen soll, versuche mir eine Systemrelevanz einzureden. Und dann komme ich zur Supermarktverkäuferin, die sich zwanzig Mal am Tag anbrüllen lassen muss, weil sie nur eine Packung Toilettenpapier pro Kunde verkaufen darf oder höre von der Cousine, dass sie als Ärztin Ostern komplett durcharbeiten muss und im Übrigen die Desinfektionsmittel von der Station geklaut werden und muss das eigene Wort dagegensetzen. Es sind lapidare Probleme, aber weil es die eigenen sind, sind sie riesengroß. Sie fragen nach der Sinnhaftigkeit dessen, was ich tue, was ich kann, wofür ich da bin.


Jeden Tag stehe ich wieder vor einem Absperrband und suche ein Wort, das beschreibt, was mich umgibt. Das eine Wort suche ich, das alles erklären kann. Für einen Augenblick hatte ich es gefunden. Es hieß Handteufelchen.

(sp)